Rotkäppchen und der Pudel

Es war einmal ein kleines Mädchen, das hieß Sinaida. Sie war so frisch und freundlich wie der junge Morgen am Berge Sinai. Sinaida verbrachte viel Zeit bei ihrer Großmutter. Sie mochte diese Frau und war deren einziges Enkelkind. Die Großmutter liebte die Handarbeit. Sie nähte und stickte und hegte eine große Vorliebe für echte Irische Spitze. Sie besaß Vorhänge aus Bobinet-Tüll mit Klöppelansätzen und Stores aus Filetarbeit, außerdem unzählige kleine Tablettdecken und Häkeldecken auf jeder Sofa- und Sessellehne. Seit einigen Jahren besaß sie auch, seit jene in Mode waren, geklöppelte Sets, das sind Platzdeckchen für den Esstisch. Dafür waren die Filetdeckchen, die früher den Tisch des Herrenzimmers zierten seither verschwunden. Es Image - God save the poodleschien, als hätte Großmutter die Anzahl derartiger Erzeugnisse in ihrem Haushalt einmal festgelegt und wollte nun nicht mehr davon abweichen. Ja, Sinaida kannte Großmutters ganz speziellen Hang zur Zahlenmystik, und vielleicht war diese der Grund dafür, dass Sinaida so gerne zählte, besonders die feingeordneten Wäschestapel in Großmutters Wäscheschrank. Natürlich besaß auch ihre Bettwäsche den feinsten Spitzenbesatz. Die zierlichen Klöppeleinsätze und die gleichen Spitzen am Volant der Kopfkissenbezüge waren so haltbar, dass sie nicht selten älter wurden als der Stoff der Wäsche selber. Auf jedem Servierbrett und in jedem Brotkorb ein Spitzendeckchen zu sehen, galt für Großmutter als ein ebenso selbstverständliches Zeichen von Kultur, wie das Tragen von Handschuhen und Hut, sollte sie einmal aus dem Häuschen geraten. So war es leicht verständlich, dass Großmutter begann, auch Sinaida zunehmend zu beklöppeln, soweit Sinaida dies zuließ.

Da an der Anzahl der Spitzenerzeugnisse in Großmutters Haushalt nicht mehr zu rütteln war, erschien es Sinaida durchaus verständlich, dass Großmutters Kunstfertigkeit, die nach ungebremster Ausweitung strebte, sich nun auch auf die Garderobe ihrer Liebsten erstreckte, und dazu gehörte an erster Stelle Sinaida, das war klar. Sinaida liebte es, die verschiedensten Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit, die ihr die unterschiedlichen Kleidungsstücke auferlegten, mit Würde und ganz eigentümlicher Eleganz zu tragen und zu ertragen. Ein einziges Kleidungsstück aus Großmutters Zauberhand jedoch stand so hoch in Sinaidas Gunst, dass kein Mensch und kein Tier sie jemals ohne dies zu Gesicht bekommen hätte.

Es war ein Käppchen aus scharlachrotem Samt, überzogen von einer Irischen Häkelspitze aus feinen Seidengarnen mit einem Antwerpener Mustermotiv, – einem Blumentopf mit Zweigen, der eine Vase mit Lilien aus dem Bilde der Verkündigung Jesu darstellte. Die Irische Spitze, eine Häkel-Reliefspitze aus Speichennetzen mit und ohne Ösen, die gewöhnlich Blüten-, Zweig-, und Blattformen bilden, gehörten zu Großmutters Lieblingsspitzensorten. Das besagte scharlachrote Käppchen aber trug Schuld daran, dass Sinaida alsbald nur noch Rotkäppchen gerufen wurde. Das passte überhaupt nicht zu einer Dame von Welt wie sie feststellen musste. Schwerenherzens griff Sinaida in den weichen, duftenden Samt, zog das Käppchen vom Kopf und legte es wehmutsvoll in die obere Schublade ihrer Wäschekommode mitten in ihre Sammlung belgischer, cremefarbener Seifen. Manchmal sehnte sie sich nach ihrem Käppchen. Dann holte sie es heraus und trug es ein Weilchen, wenn sie allein in ihrem Zimmer blieb. Zwei Sommer mussten vergehen, bis niemand Sinaida mehr Rotkäppchen nannte. Der Winter kam ins Land, und eines Morgens war Sinaidas Zimmer von solch hinreißender Helligkeit erfüllt, dass sie wusste, der Winter hatte seinen Morgenrock aus schneeweißem Samt angezogen und sein eisiger Atem hauchte die schönsten Bilder aus irischer Häkelspitze an Scheiben und Gläser. Sie griff nach ihrem scharlachroten Käppchen und lief in den weißen Wald.

Dort wollte sie ihr Käppchen tragen, denn sie liebte weiß und rot. „Weiß wie Schnee, rot wie Blut, Schwarz wie Ebenholz“, dachte sie und lief davon. Sie durchkämmte den Wald, bis sie zu einer sonnendurchfluteten Lichtung gelangte. Der Schnee glitzerte und funkelte eindringlich, sodass sie stehen blieb und die Augen schloss. In ihrer Manteltasche fühlte sie den weichen Samt ihres scharlachroten Käppchens. Vorsichtig blinzelnd öffnete sie die Augen. Vor ihr stand ein weißer Königspudel. Er stand so still wie sie selbst. Sie empfand seine plötzliche Gegenwart recht verwunderlich. Auf dem Kopf trug er ein stolzes Krönchen, aus kleinen weißen Löckchen. „So wie Großmutters Dauerwelle“, dachte Sinaida und stülpte ihm das scharlachrote Käppchen über das Krönchen und die puschligen Ohren. Der Pudel schien sich nicht im geringsten darüber zu wundern. Es schien eine Art stiller Übereinkunft zu sein, und so wanderten sie endlose und unbegreifliche irische Spitzenmäander in des Winters Morgenrock aus schneeweißem Samt.